"Das frustriert sehr viele Bürger in den Demokratien"
David Hesse / Tagesanzeiger
Alle verfolgen die US-Wahlen, denn es geht um den mächtigsten Job der Welt. Richtig?
Kommt darauf an. Verglichen mit anderen Staatschefs ist ein US-Präsident wohl manchmal mächtig. Aber verglichen mit den eigenen Vorgängern? Eins ist klar: Der nächste Präsident wird noch weniger Handlungsoptionen haben als die Präsidenten vor ihm. Das war bereits bei Barack Obama und George W. Bush so. Als US-Präsident gewärtigt man zunehmend Grenzen bei der Ausübung der Macht.
Sicher? Ein roter Knopf ist ein roter Knopf.
Es wäre dumm, zu bestreiten, dass die USA die stärkste Armee der Welt haben, dass sie wirtschaftlich und kulturell gewaltigen Einfluss ausüben. Doch gleichzeitig müssen wir erkennen, wie wenig solche Kraft heute bewirken kann. Denken Sie an Syrien, an die Kriege im Irak und in Afghanistan. Denken Sie an den Islamischen Staat. Und denken Sie an den Klimawandel! Präsident Obama ist überzeugt, dass der Klimawandel eine der grössten Bedrohungen für die USA und die gesamte Menschheit darstellt. Trotzdem ist er extrem limitiert, nach dieser Überzeugung zu handeln.
Er braucht Partner. Die brauchte es immer. Wie neu ist diese Ohnmacht der Mächtigen?
Es ist ein längerer Prozess, doch seit Ende des Kalten Krieges beschleunigt er sich. Treibend sind drei Revolutionen: More, Mobility und Mentality. Erstens: Wir leben in einer Welt des Überflusses, es hat mehr von allem: mehr Staaten, mehr Menschen, mehr Waffen, mehr Medikamente, mehr Philanthropie und mehr Terroristen. Nehmen Sie irgendeine menschliche Aktivität – Sie werden heute mehr davon finden auf der Welt. Das macht es viel schwieriger, echte Macht auszuüben. Zweitens: Alles bewegt sich. Geld, Ideologien, Menschen, NGOs, Religionen. Und das dritte: Unsere Mentalitäten ändern sich, unsere Erwartungen, Werte, Neigungen. Also: Die More-Revolution hilft denen, die die etablierte Macht herausfordern. Die Mobility-Revolution hilft ihnen, die Barrieren zu durchbrechen, die die alte Macht um sich errichtet hat. Und die Mentality-Revolution schliesslich macht die alten Barrieren brüchig. Wir leben in einer Welt, in der Macht leichter zu erringen, aber schwerer einzusetzen und noch viel leichter wieder zu verlieren ist.
Das war mehr oder weniger der Klappentext Ihres Buches «The End of Power». Wo geht die Macht hin? Facebook-Chef Mark Zuckerberg empfahl Ihr Buch – und innert Augenblicken war es vergriffen. Ist das Macht?
Klar. Aber auch Zuckerberg würde Ihnen erzählen, dass seine Handlungsmacht begrenzt ist. Er erlebt Rückschläge, was die Privatheit angeht in Europa, und er muss mit Zensur in China leben. Aber bitte, darf ich eines klarstellen? Ich behaupte nicht, es gäbe keine Machtballungen mehr. Facebook und Google, Deutsche Bank und Goldman Sachs, Merkel und Putin, Vatikan und Pentagon: Das sind sehr mächtige Institutionen und Menschen. Niemand bestreitet das. Doch die mächtigen Akteure haben Mühe, ihre grosse Macht anzuwenden, Dinge hinzubekommen. Davon leben Populisten wie Donald Trump: von den grossen Erwartungen an die Mächtigen, die stets enttäuscht werden müssen.
Verstehen die Mächtigen ihren Machtverlust? Obama hat 2008 versprochen, Guantánamo zu schliessen – und ist gescheitert.
Obama hat diese Lektion lernen müssen. Er musste von Anfang an mit der Sabotagepolitik durch die Republikaner leben, mit internationalem Widerstand gegen seine Ideen. Im Kampf um seine Wiederwahl 2012 fragte er einmal einen Journalisten: Sehen Sie die Terrasse da draussen vor dem Weissen Haus? Ronald Reagan hat sie bauen lassen. Eines Tages dachte Reagan: Eine Veranda wäre schön. Er griff zum Telefon, und wenig später war das Ding gebaut. Würde ich, Obama, heute dasselbe tun wollen, es würde zu einem Projekt, das zu viel von meiner Zeit rauben würde. Ich müsste die Ausgaben öffentlich verteidigen. Fox News würde Debatten führen über meine Veränderung des Weissen Hauses, meine Eingriffe in die historische Bausubstanz. Deshalb werde ich es nicht tun.
Was ist die Moral der Anekdote? Am Ende gibt es keine Veranda?
Es gibt keine echte Handlungsmacht. Wenn Trump die Wahlen gewinnt, wird er rasch feststellen, dass er die Dinge, die er versprochen hat, nicht machen kann. Er kann keine Mauer bauen; der Kongress und die Gerichte werden es verhindern. Er kann nicht die 11 Millionen Menschen ausschaffen, die illegal im Land sind. Und er wird Muslimen niemals die Einreise in die USA verwehren können. Leader wie Clinton oder Trump wissen um diese Realität oder werden sehr schnell davon erfahren. Wer es nicht begreift, sind die, die immer noch das Gefühl haben, jemand stehe am Ruder dieser Welt. Die Anhänger von Trump in den USA sowie die Wähler der Populistenparteien in Europa suchen jemanden, der sich um sie kümmert. Sie wollen jemanden, der verantwortlich ist, sie beschützt und abschirmt von allem Bösen. Vor den illegalen Einwanderern wie vor Terroristen, vor Putins Expansionspolitik und den Chinesen. Viele glauben, diese Dinge würden nicht geschehen, wenn es echte Leader gäbe. Das ist eine Illusion. Wir leben nicht länger in einer Welt, in der jemand am Ruder steht.
Die Führer Chinas und Russlands würden widersprechen. Sie pflegen einen Kult der Leadership und lachen über die handlungsgehemmten Demokratien.
Öffentlich lachen sie. Privat aber wissen sie, dass auch ihre Macht begrenzt ist. Dieser Tage kam die Meldung, dass der chinesische Präsident Xi Jinping den Prozess zu verändern versucht, in dem sein Nachfolger bestimmt wird. Es scheint, als ob er so seine Amtszeit verlängern möchte. Er will also das System austricksen, das seine Macht begrenzt – und löst damit parteiinternen Wirbel aus. Wladimir Putin wiederum gewärtigt in Russland eine sehr schwache Wirtschaft. Er mag Erfolge feiern mit ausländischen Abenteuern in Syrien, der Ukraine, in Georgien, weil es viele Russen von ihrer täglichen Mühsal ablenkt. Aber das geht nicht ewig. Wir haben in Peking wie Moskau Diktatoren, die mächtig sind, aber die Grenzen ihrer Macht spüren und entsprechend Unsicherheit zeigen.
Ist das nicht Wunschdenken? Wenn eine europäische Regierung einen Flughafen bauen will, dauert es Jahre, bis alle Einsprachen behandelt sind. Peking baut ihn einfach, in ein paar Monaten. Das ist Stärke, Leadership.
Nein, das ist die Illusion von Infrastruktur. Diktatoren können grosse Bauten rascher realisieren. Aber schauen Sie sich einmal die Zahl von Strassenprotesten in China an. Diese Zahl explodiert. Ziemlich häufig demonstrieren die Menschen gerade gegen mangelhafte Infrastruktur. Wohnhäuser, die nicht sicher sind, Züge, die entgleisen. Demokratien sind langsam, aber sie haben Vorzüge.
Wieso herrscht dann keine Jubelstimmung in den westlichen Demokratien?
Weil die Underperformance der Demokratien Sorgen macht. Überall auf der Welt verwandeln sich Demokratien in Vetokratien. So hat das der Politologe Francis Fukuyama genannt. Es herrscht ein Überfluss an Vetokraft. Demokratien sind voller Organisationen, Verbände und sogar Individuen, die gerade genügend Macht haben, den ganzen Prozess zu blockieren – aber nicht genug Kraft, etwas zu schaffen, ein Projekt durchzusetzen. Das frustriert sehr viele Bürger in den Demokratien.
So sehr, dass Demokratie infrage gestellt wird. Ein belgischer Politologe schlägt vor, Wahlen durch Losentscheide zu ersetzen. Wie sehr ist die Demokratie unter Druck?
Sehr stark. Zu viele Menschen sind desillusioniert. Die Finanzkrise, die 2008 begann und noch immer mit uns ist, trägt Schuld daran. Genau wie der grosse Verlust an Vertrauen überall: Die Menschen vertrauen ihren Regierungen, der Justiz, dem privaten Sektor, sogar dem Militär und der Kirche immer weniger. Das macht Demokratie schwierig.
Wenn die Bürger so viel Vetokraft haben, wieso fühlen sie sich so machtlos? Liegt die Macht nicht vermehrt bei ihnen, den «Koalitionen der Zornigen», wie Sie es nennen?
Die politische Energie auf der Strasse mündet nur selten in echter politischer Kraft. Es ist zu einfach geworden, einen Marsch zu organisieren. Und zu schwierig, diese Energie in Regierungsmacht zu konvertieren. Die sozialen Medien machen es leicht, sich an einer Strassenecke zu treffen, alle im selben T-Shirt und mit Spruchbändern. Jeder kann es tun, und es gibt ein gutes Gefühl von Ermächtigung. Manchmal nützt es wirklich, wie im Arabischen Frühling, in Brasilien, in Guatemala, in der Ukraine. Aber sehr oft wird nichts daraus.
So wie bei Occupy Wallstreet?
Das blieb ohne praktische Konsequenzen. Auch die Tea-Party-Bewegung oder die Indignados in Spanien führten zu nichts. Solche Proteste sind wie ein Motor, der hochtourig dreht, aber nicht mit den Rädern verbunden ist. Man fährt nirgendwo hin.
Wie liessen sich Räder und Motor verbinden?
Die Verbindung wären die politischen Parteien. Die haben heute weltweit einen schlechten Ruf. Die Leute wollen lieber neue Bewegungen, NGOs, bleiben den Parteien fern. Parteien sind nicht länger eine Heimat für Idealisten, sondern ein Habitat der Opportunisten. Ein Ort für alte, korrupte, langsame Figuren. Das ist ein Problem. Wir müssen die politischen Parteien mit neuer Energie versehen, sie «rebranden», neu erfinden.
Besitzt der Journalismus noch Macht?
Ja und nein. Megaplayer wie die «New York Times» oder «El País» in Spanien strampeln, um die Macht zu bewahren, die sie lange hatten. Sie werden herausgefordert von Mikromächten – jungen, agilen Organisationen, die mit grösserem Tempo und neuen Strategien arbeiten. Doch je mehr sich die Machtverhältnisse aufsplittern, desto mehr ist auf Seite des News-Konsumenten auch ein Bedarf nach einem vertrauenswürdigen Guide, einem Sherpa, der durch den grossen Tsunami der Informationen führen kann. Die Leute wollen zuverlässige Quellen. Sehr oft halten sie sich an Individuen, einzelne Kolumnisten, Leitartikler, denen sie vertrauen.
Der totgesagte Nationalstaat bleibt mächtig. In der Flüchtlingskrise ist er es, der Pässe und Papiere ausstellt, Grenzzäune errichtet.
Staaten werden noch eine sehr lange Zeit mit uns sein. Und auch der sich nun verstärkende Nationalismus wird uns noch länger beschäftigen. Staaten sind eben auch ein unverzichtbares Gegenstück zum Markt. Wir haben Exzesse gesehen, bei denen der freie Markt zu viel Macht hatte – und auch Exzesse, bei denen der Staat zu viel Macht hatte. Beide Extreme sind falsch und schlecht für die Gesellschaft. Es geht um die richtige Balance, nicht um die Überwindung des einen oder anderen. Ich glaube an Staaten. Viele unserer grossen Probleme sind eine Folge von zu schwachen Staaten.
Der Ruf nach starken Leadern ist unerfüllbar, aber stärkere Staaten wären eine Option?
Richtig. Ich glaube zwar nicht, dass Europa wieder ein Kontinent der Nationalstaaten werden sollte, dass die europäische Integration falsch ist. Im Gegenteil: Viele Probleme lassen sich nur gemeinsam anpacken. Doch die Staaten innerhalb der Europäischen Union sollten stärker werden, damit auch die Union wieder stärker wird. Dafür braucht es eine neue Begeisterung für Europa.
Woher soll die kommen?
Es gibt kein Patentrezept. Aber man müsste die Vorteile der europäischen Integration besser erklären. Eine grosse Überraschung am Brexit war doch, dass Regionen, die von Europa am meisten profitieren, gegen die EU gestimmt haben. Das zeugt doch leider von massiver Fehlinformation. So gelingt der Enthusiasmus nicht.